„Das alles ist schwer zu verarbeiten“
BRK-Helfer sind aus dem Katastrophengebiet zurückgekehrt. Die Bilder werden sie nie mehr vergessen.
HASSFURT / ALTENAHR - Die Autobahn endet hier abrupt. Wo Reisende sonst auf zwei Fahrspuren ihren Weg zurücklegen, hat die Erde sämtliche Infrastruktur verschluckt. Vor den Helfern im rheinland-pfälzischen Hochwasser-Katastrophengebiet tut sich auf einer Breite von zirka 15 Metern ein mehr als fünf Meter tiefer Krater auf. An anderer Stelle hängen Leitplanken in der Luft und lassen grob erahnen, wo noch vor Tagen eine Gemeindestraße verlaufen ist. Jetzt ist sie vollends weggespült. Und auch auf den Eisenbahnschienen werden nie mehr Züge fahren. Wie Mikado-Stäbchen sind die Schienen ineinander verschlungen, verbogen und ragen wie meterhoch in den blauen Himmel.
Thomas Behr aus Römershofen beschreibt sichtlich erschüttert seine Eindrücke aus dem Katastrophengebiet bei Altenahr, die sich tief in sein Gedächtnis einbrennen werden und für die er einen Tag nach der Rückkehr teilweise noch immer keine Worte findet. „Wir haben ein Bild unbeschreiblicher Zerstörung gesehen. Wo letzte Woche noch Ortschaften standen, ist jetzt nichts weiter als brauner Schlamm und Reste von Wassermassen.“ Behr ist einer von 15 Helferinnen und Helfern aus dem BRK-Kreisverband Haßberge, die als Teil des Hilfeleistungskontingents Unterfranken von Samstag bis Dienstag rund 72 Stunden im Katastrophengebiet im Westen Deutschlands Hilfe geleistet haben.
Als Mitglied der Schnelleinsatzgruppe „Information und Kommunikation“ (IuK) hat der 55-Jährige Unterstützung im Einsatzstab vor Ort geleistet, hat zur Lageerkundung beigetragen, Informationen an die zuständigen Einheiten weitergegeben, Einsatzverläufe dokumentiert und bei der Aufrechterhaltung von Funkkommunikation unterstützt. Er beschreibt eine Fahrt zur Lageerkundung zu einer kleinen Ortschaft, über Serpentinen hinunter in ein Tal und durch einen völlig dunklen Tunnel. „Da hat kein Strom funktioniert, keine Abluftanlage, die Luft war schlecht. Eine gespenstische Szene wie in einem Katastrophenfilm – eben nur real.“ Die verbliebenen Straßen sind staubig, mit Schlamm bedeckt, eine Zufahrt nur mit viel Vorsicht und fahrerischem Können möglich. Von einer Brücke aus erkennt das Team ein „extremes Ausmaß der Zerstörung“. Meterhoch liegt Treibgut in der Landschaft, ganze Häuser und Brücken – von einem reißenden Strom einfach weggeschwemmt. „Dass hier noch vor wenigen Tagen Menschen friedlich in ihren Dörfern gelebt haben, so wie man selbst zuhause lebt, kann man kaum glauben. Ganze Ortschaften existieren nicht mehr, man sieht nur noch einen braunen Strich in der Landschaft.“
Im Einsatzstab wertet Thomas Behr unter anderem Satellitenbilder aus, die den Einsatzkräften helfen sollen, die Situation im Einsatzgebiet besser einschätzen zu können. „Ich habe Satellitenaufnahmen gesehen, vor der Flut und danach“, beschreibt Behr, „da ist jetzt einfach nichts mehr, unfassbar.“ Er und seine Kolleginnen und Kollegen der SEG IuK unterstützen ebenfalls dabei, Stück für Stück und so gut es geht, Kommunikation via Einsatzfunk aufrecht zu erhalten oder wieder möglich zu machen.
Erzählungen von Kollegen des DRK, die bereits wenige Stunden nach der Flutkatastrophe vor Ort waren, gehen Thomas Behr unter die Haut, schildern sie doch die Dramatik der Minuten und Stunden, in denen die Flut sich ihren Weg durch die Region gefressen hat. „Da geht dir durch den Kopf: Was hättest du und deine Familie selbst in so einer Situation gemacht?“ Das Wasser kam in der Nacht, innerhalb kürzester Zeit ist aus einem sonst 60 Zentimeter Wasser führenden Flüsschen ein Monster geworden, dass sich bis zu acht Metern Höhe auftürmt und alles verschluckt, was sich ihm in den Weg stellt. „Ich habe von einer Familie erfahren, die in ihrem Haus eingeschlossen wurde, die sich in den 2. Stock geflüchtet und dort mitsamt zwei Kleinkindern auf einen Tisch gestellt hat, als das Wasser fast bis unter die Decke anstieg. Die haben ihre Kinder hochgehalten und hatten zwischen Decke und dem Wasserspiegel nur noch 30 Zentimeter Luft zum Atmen.“ Der 55-Jährige pausiert in seiner Erzählung, die Betroffenheit macht ihn sprachlos. Tage nach der Flut lässt sich dieses Drama nur noch erahnen, eine schmierige braune Linie markiert an der Außenfassade des Wohnhauses den Wasserstand in Höhe des zweiten Stockwerks.
Neben der Unterstützung bei der Aufrechterhaltung der Kommunikation haben die Einsatzkräfte aus den Haßbergen zusammen mit rund weiteren 150 Einsatzkräften des unterfränkischen Hilfeleistungskontingents sanitätsdienstliche Betreuung von Betroffenen und Helfern übernommen, die sich bei Aufräumarbeiten Verletzungen zugezogen haben. Des Weiteren wurden von der SEG Transport Einheiten der Psychosozialen Notfallversorgung (PSNV) ins Einsatzgebiet gebracht, um Bewohner und Helfer zu betreuen. Nicht zuletzt wurde vom Kontingent die Verpflegung von Helfern und Betroffenen durch eine Feldküche sichergestellt. Anstatt der sonst für die Feldküche üblichen 500 Essen wurde 6000 am Tag zubereitet.
„Die Bilder sind real viel krasser als man sie aus den Fernseh-Nachrichten einschätzt“, sagt Rudi Hauck, stellvertretender Kreisbereitschaftsleiter aus Memmelsdorf. Das Leid vieler Menschen sei unfassbar, sie hätten Familienmitglieder durch die Flut verloren, Nachbarn seien vermisst, Bekannte tot aufgefunden worden. Surreale Bilder haben sich den Helfern aus den Haßbergen geboten, beschreibt der 29-Jährige. „Da hängt Kleidung einfach ein paar Meter hoch in Bäumen.“ Andernorts ragt ein Auto aus meterhohem Geäst. „So stellt man sich ein Kriegsgebiet vor“, sagt Hauck.
Nach ihrer Ankunft am Samstag im Bereitstellungsraum am Nürburgring ging es für die Haßbergler weiter nach Neuwied, wo sie für die restlichen zwei Tage ihre Basis in einer Blindenschule bezogen und vor dort aus ihre Aufträge abarbeiteten. Rudi Hauck und seine Kollegen von der SEG Transport haben mit ihren Fahrzeugen Kräfte der PSNV zu Akuteinsätzen gefahren, beispielsweise als die Leiche einer Feuerwehrfrau aufgefunden wurde.
„Da fährt man dann durch extrem unübersichtliches Gelände, in Dörfer hinein, in denen der Einsatzfunk kaum noch funktioniert, geschweige denn ein Handynetz. Und überall stehen Menschen in kurzen Hosen und Gummistiefeln, die Unrat aus Häusern räumen oder mit Schaufeln Dreck zur Seite befördern. An die Hausfassaden sind große farbige Nummern gesprüht, die anzeigen, wie viele Menschen hier leben oder wie viele vermisst sind.“ Zu begreifen, was man gesehen hat, fällt einen Tag nach der Rückkehr aus dem Katastrophengebiet schwer. „Man möchte am liebsten direkt zurück und selbst eine Schaufel in die Hand nehmen und einfach mitschaufeln“, sagt Hauck.
Doch das war nicht die Aufgabe der Helfer aus den Haßbergen. Sie haben Anwohnern und Betroffenen ebenso ganz praktische Hilfe geleistet, Verletzungen medizinisch versorgt und die Menschen beraten, wo es die nächste hausärztliche Notversorgung gibt oder Not-Apotheken erreichbar sind. „Wir haben geholfen, wo es geht“, beschreibt der 29-Jährige seine Eindrücke. Angesichts der Erlebnisse werde man selbst dankbarer und noch hilfsbereiter.
Es ist ein Wechselbad der Gefühle, zwischen Momenten von Zuversicht und Freude auf der einen Seite und des blanken Entsetzens und Verzweiflung auf der anderen. Positiv empfindet Rudi Hauck den Zusammenhalt Tausender Retter aus ganz Deutschland; ebenso das alte Ehepaar, das gemeinsam die Wirren des Weltkriegs überlebt hat und Zuversicht verbreitet, dass man auch diese Katastrophe meistern werde. Entsetzen herrscht über die hohe Zahl an Toten, die die Naturkatastrophe in Deutschland gefordert hat und Verzweiflung kommt beim Anblick des alleinerziehenden Vaters mit drei kleinen Kindern auf, dem alles genommen wurde und der nur noch die Kleidung am Körper und 100 Euro in der Hosentasche besitzt.
„Das ist alles sehr schwer zu verarbeiten“, sagt Anita Stretz, Helferin bei der IuK. „Chaos in einem bislang noch nie erlebten Ausmaß“, fasst die 42-Jährige aus der Gemeinde Rauhenebrach ihre Eindrücke zusammen. Der Einsatz sei für alle Beteiligten sehr anstrengend und psychisch fordernd gewesen. Die Helfer seien mit Adrenalin bis an die Haarspitzen gefüllt gewesen. „Man will einfach nur helfen.“ Sogar Hunger und Durst habe man kaum gespürt.
Wo vorher Häuser standen, sei jetzt nichts mehr außer Lehmboden. „Die Leute haben kein Wasser, keine Toilette, keinen Strom, einfach nichts“, beschreibt Anita Stretz. „Aber sie leben, das ist das Wichtigste.“ Die große Solidarität und Hilfsbereitschaft unter Betroffenen und Helfern hat sie nachhaltig beeindruckt. Und vor allem auch die Anerkennung Fremder, die sich bei den Helfern für deren Einsatz mit besonderen Gesten bedankt haben. Stretz: „Auf der Fahrt in Einsatzgebiete standen plötzlich Menschen am Straßenrand und haben uns applaudiert und den Daumen in die Höhe gereckt.“ Die Helfer hätten die Dankbarkeit der Menschen für ihren Einsatz und ihre Anreise aus Bayern gespürt. Andere haben den Helfern einfach Dutzende Pizzas zum Essen vorbeigebracht. „Das hat mich sehr berührt, dass wir von Außenstehenden so viel Anerkennung bekommen haben.“
Von der Hilfsbereitschaft völliger Fremder war auch Alex Toni von der Bereitschaft Memmelsdorf und Helfer in der SEG „Technik und Sicherheit“ beeindruckt. „Da sind Hunderte Leute aus ganz Deutschland angereist, hatten Schaufel, Schubkarre und Gummistiefel dabei und haben bei Wildfremden den Dreck aus deren Häusern geschaufelt.“ Für Toni war es keine Fragen, selbst mit dem Hilfeleistungskontingent nach Rheinland-Pfalz zu fahren. „Für so etwas trainiert man jahrelang, jetzt kann man helfen.“ Dafür hat er sogar zuhause seine eigene Baustelle – einen Wohnhausbau – verlassen. „Ich habe einfach alles liegen lassen und bin zum Einsatz“, sagt der Memmelsdorfer und lässt keinen Zweifel: „Falls wir nochmal angefordert werden, bin ich wieder dabei.“
Maximilian Wüstenberg, Mitglied bei der BRK-Bereitschaft Ebern und Helfer in der SEG Transport spricht das Hochwasser vor zwei Wochen in Ebern an, bei dem Teile der Innenstadt überflutet wurden. „Wenn man dann im Katastrophengebiet steht und die massive Zerstörung sieht, fragt man sich: Kann einen so etwas auch selbst mal treffen?“ Das sei angsteinflößend, meint der Eberner. „Solche Bilder kann man sich in Deutschland einfach nicht vorstellen. Ganze Dörfer sind ausgelöscht. So stelle ich mir ein Kriegsgebiet vor.“
Jetzt nach der Rückkehr aus dem Katastrophengebiet versucht jeder für sich, das Erlebte zu verarbeiten. Die meisten gehen schon wieder wie selbstverständlich ihrem Beruf nach, reden mit Familie oder Freunden über das Erlebte oder betrachten Fotos aus dem Katastrophengebiet, um dadurch nach und nach realisieren zu können, was sie nur kurz zuvor live gesehen, aber womöglich nicht verstanden haben. Diese Bilder werden sie ein Leben lang begleiten und sich tief in ihr Gedächtnis graben, so wie die reißende Flut in den rheinland-pfälzischen Boden.
Dank von BRK-Kreisgeschäftsführer Dieter Greger:
Für ihren Einsatz spricht BRK-Kreisgeschäftsführer Dieter Greger allen Helferinnen und Helfern seinen Dank aus. Sie hätten sich in ihrer Freizeit und ehrenamtlich dieser körperlich und psychisch fordernden Situation gestellt, um Mitmenschen in Not selbstlos zu helfen.
Gerade bei außergewöhnlichen Einsatzlagen, sei es auf lokaler Ebene im Landkreis oder überregional in anderen Bundesländern und dem Ausland, bewähre sich das Aufwuchssystem des BRK. Innerhalb kürzester Zeit könne so durch das ehrenamtliche Engagement vieler Helferinnen und Helfer im Katastrophenschutz schnelle und zum Teil hochspezialisierte Hilfe geleistet werden. „Für solche Einsatzlagen bilden sich unsere Ehrenamtlichen stetig fort“, sagt Greger. „Nicht nur Einsätze fordern die Ehrenamtlichen, sie investieren jedes Jahr viel Freizeit in Aus- und Fortbildung. Dafür sage ich allen meinen persönlichen Dank."
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PM 058 / 2021. Text: Michael Will / BRK. Fotos: Bayerisches Rotes Kreuz